Der alte weise Kranich

 

Ein Kranich ließ sich nieder am Fluss der grauen Zeiten, der sich am Fuße der goldenen Berge von Escardon entlang wand. Er war nicht mehr der jüngste und hatte viele bewegte Zeiten hinter sich gebracht. Mit seinen bald 70 Jahren hatte er auch vieles von der Welt gesehen. Doch eines hatte er in seinem bewegten Leben niemals vergessen: seine Heimat, das Land seiner Herkunft.

Da saß er nun – nach vielen Jahren endlich zurückgekehrt – am Fuße der goldenen Berge, von denen er damals in seiner Jugend losgezogen war, um die Welt zu erobern. Er blickte sich um. Alles um ihn herum war ruhig und friedlich. Sein Blick schweifte in die Ferne und er genoss die letzten wärmenden Strahlen der Abendsonne, die sich gerade hinter den Bergen in ihren Schlaf senkte. Und so wie sein Blick schweifte, schweiften auch seine Gedanken – zurück zu den Zeiten seiner Jugend.

 

Damals war hier im Flußdelta viel los. Große Schwärme von Zugvögeln machten hier Rast und löschten ihren Durst. Seine Kranichfreunde und er selbst labten sich täglich an den unzähligen Fischen, die den Fluß der grauen Zeiten bevölkerten. Auch viele andere Tiere hatten hier gelebt. Nein, grau waren die Zeiten damals nicht gewesen. Ganz im Gegensatz zum seltsamen Namen dieses Flusses, dessen Ursprung ihm nie einer der anderen Kraniche erklären konnte. Auch seine eigenen Eltern hatten es nicht gewusst. Doch jetzt als er zurückgekehrt war, schien ihm der Name nicht mehr so unpassend. Denn weit und breit in diesem großen Delta – so weit seine Augen reichten – konnte er keinen weiteren Kranich sehen. Auch kein anderes Tier war zu erblicken. Was war nur geschehen? Lange war es auch her gewesen, dass er einen seiner Kumpane von damals getroffen hatte. Irgendwie hatte er gehofft, sie alle oder wenigstens einen Teil von Ihnen hier zu ihrem Lebensabend wieder zu treffen. Doch er war allein.

 

Auch die Fische im Fluss waren weit weniger geworden. Dennoch, für seinen Hunger werden sie wohl reichen.

Was sollte er nur tun? So ruhig und friedlich es hier schien, so trostlos wirkte es auf Ihn in seiner Einsamkeit.

Müde geworden senkte sich sein Kopf, und seine Augen fielen mit der Sonne gemeinsam in den Schlaf.

 

Und er träumte. Er träumte davon wie der Fluß, an dessen Ufer er sich niedergelassen hatte, zu ihm sprach. Er erzählte ihm von den alten Zeiten. Von den tausenden von Jahren in denen er sich schon durch dieses Tal wand. Von den goldenen Zeiten am Fuß der goldenen Berge, von der Fülle und dem Wohlstand, der damals geherrscht hatte und von dem alle Tiere profitiert hatten. Stolz war damals sein Bett mit reichlich Wasser und Fischen gefüllt und allen ging es gut. Unzählige Tierarten hatten sich an ihm gelabt und sein Ruf eilte ihm in jede Ebene, die er erreichte, voraus. Doch eines hatte er immer als ungerecht empfunden. Seinen Namen. Den hatte ihm einst ein alter weiser Kranich gegeben, der Ihm das Ende dieses Wohlstandes vorausgesagt hatte. Doch der Fluß hatte es nicht glauben wollen. Warum sollte ausgerechnet er bald kaum noch Wasser führen? Warum sollte ausgerechnet ihn eine große Dürre erreichen? Warum sollte er zu einem lächerlichen Bächlein zusammenschrumpfen?

 

Voller Wut war er schließlich über die Ufer getreten und hatte mit großen Überschwemmungen die Kraniche vertrieben. Doch er hatte nicht mit den Menschen gerechnet, die nun, auf seinen Reichtum aufmerksam geworden, begonnen hatten Ihm an seiner Quelle das Wasser abzugraben, um es für ihren Landbau zu nutzen. Mit den Jahren war er dann zu einem Rinnsal geworden, und im Tal der goldenen Berge war eine große Dürre ausgebrochen, die nach und nach auch alle anderen Tiere vertrieben hatte. Der alte weise Kranich hatte dies vorausgesehen, weil er die Menschen und ihre Eigenheiten von all seinen Reisen in ferne Länder kennengelernt hatte.

 

Viele Jahre der Dürre waren gefolgt und das Tal der goldenen Berge war einsam und verwaist. Ja, so war er, der Fluss der grauen Zeiten schließlich doch noch seinem Namen gerecht geworden.

 

Eines Tages hatte er seinen Frieden damit gemacht nur noch ein Rinnsal zu sein und hatte begonnen den Frieden an seinen Ufern zu genießen. Bis – ja bis plötzlich nach dem letzten Winter auf einmal wieder mehr und mehr Wasser durch sein Flussbett floss. Die Menschen hatten sich weiterentwickelt. Auch sie waren aufgrund der Dürre immer weniger geworden und hatten schließlich gelernt immer sparsamer und effektiver sein Wasser zu nutzen.

Und nun, nach drei Jahrzehnten, war mit ihm, dem Kranich, endlich das erste Tier an seine Ufer zurückgekehrt. Und ausgerechnet ein Kranich ! Dankbar sei er, erzählte der Fluß, und wie es ihm leid tat, seine Kranichbrüder vertrieben zu haben.

Und nun dies. Das musste einfach ein gutes Omen sein! – Das war das Zeichen eines neuen Anfangs! Bald würden sicher noch mehr zurückkehren und mit ihnen noch viele andere Tiere. Und auch ihnen würde er dann von den grauen Zeiten erzählen und davon, dass auch solche Zeiten ihr Gutes haben können und dass auch sie irgendwann einmal wieder vorbei sein werden.

 

Am anderen Morgen, als die Sonne am Himmel golden erwachte und sie so den goldenen Bergen ihren Namen gab, erwachte auch ein Kranich aus seinem Traum - und damit zu neuem Leben. Und er beschloss, hier zu bleiben – am Fluss der grauen Zeiten – der ihm in dieser Nacht ein Bruder im Geiste geworden war. Ja, er beschloss, hier zu bleiben und ein Zeichen zu setzen – und mit seinem Bruder, dem Fluss geduldig zu warten bis eines Tages auch seine Kranichbrüder zurückgekehrt sein werden.

 

Autor: Irkan Udo Sananda